Die Hamburger Ehe: Gegen Diskriminierung, für universelle Menschenrechte

Interview

Die Ehe für alle hat in Deutschland einen langen Weg hinter sich. Im Interview dazu Krista Sager, langjährige Grüne MdB und zweite Bürgermeisterin für Hamburg und Senatorin für Wissenschaft und Gleichstellungspolitik.

Grüne Visionen

Das Interview mit Krista Sager führte Marion Kraske.

Du blickst auf ein bewegtes politisches Leben zurück. Was war das damals für eine gesellschaftliche Stimmung im Land, als du angefangen hast, dich zu engagieren?

Ich habe schon als Jugendliche angefangen, mich politisch zu engagieren. Das war Ende der 60er Jahren, da war die Situation in der Bundesrepublik geprägt von der Nachkriegszeit, wichtige Themen für uns waren die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, mit den Verbrechen der Nazis. Es war eine eher beklemmende gesellschaftliche Atmosphäre, die sehr stark geprägt war von den patriarchalischen Vorstellungen in Bezug auf das Verhältnis von Männern und Frauen, der Diskriminierung von Minderheiten, starken Ressentiments gegen die Freiheitstendenzen in der Jugend etc. Ich habe mich als Jugendliche stark für Frieden und gegen Faschismus eingesetzt. Später kämpfte ich für Flüchtlinge und Minderheiten, für allgemeine Bürgerrechte. Als dann die Umweltbewegung aufkam, das war in den 70er Jahren, engagierte ich mich in der Anti-Atombewegung. Anfang der 80er Jahre bin ich dann zu den Grünen gegangen.

Du schilderst ja, dass in der Grünen Bewegung viele Mosaiksteine vorhanden waren. Welche gesellschaftlichen Probleme wolltet ihr als erstes lösen? Was waren eure/deine Vorbilder in dieser verkrusteten Republik?

Wir hatten in der Tat nicht nur ein Thema, wir kamen aus vielen Bewegungen gleichzeitig. Umwelt spielte natürlich eine große Rolle, da ging es vor allem um die Gefahren der Atomkraftwerke, natürlich um die Lagerungsprobleme des atomaren Mülls, um die Risiken der Technik, die Gefahren eines Gaus, es ging aber auch um Luft- und Flussverschmutzung, um die Gifthalden von alten Industriebetrieben, die die Gesundheit der Menschen gefährdeten. Gleichzeitig traten wir für Frauenrechte ein, für Bürgerrechte insgesamt, es ging um soziale Fragen von Gerechtigkeit. Und sehr früh ging es auch um Minderheitenrechte.

Wir machen jetzt einen kleinen zeitlichen Sprung in die Zeit, als du Senatorin – so heißen die Minister*innen - für Gleichstellung in Hamburg warst. Diese Rechte für Minderheiten hast du ja damals zu einem Schwerpunktthema gemacht. Was bedeutete zu der Zeit Gleichstellung?

Erst einmal ging es uns dabei um die Gleichstellung von Männern und Frauen, es ging u.a. um rechtliche Fragen, um die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt, um Bildungsgerechtigkeit, es ging um Gewalt gegen Frauen in den Familien und auch um die rechtliche Ahndung solcher Taten. Daneben wurde diese Gleichstellungsdebatte erweitert. Nun ging es auch um die rechtliche Gleichstellung und Enttabuisierung des Lebens von Schwulen und Lesben.

Ein Thema, das für eine große Aufmerksamkeit auch im öffentlichen Diskurs sorgte, war das Thema „Hamburger Ehe“. Was hatte es damit auf sich?

In meiner Jugendzeit und auch noch, als ich eine junge Erwachsene war, war das Thema Homosexualität extrem tabuisiert und lange war die Beziehung zwischen Männern sogar strafbar. Dieser Strafparagraf 175 wurde dann Ende der 60er Jahre zwar etwas reformiert, richtig abgeschafft wurde er aber erst nach der deutschen Wiedervereinigung 1994. Es gab lange eine regelrechte Verachtung gegenüber Menschen, die sich gleichgeschlechtlich orientierten, gegenüber schwulen Männern noch stärker als gegenüber lesbischen Frauen. Insgesamt wurde darüber lange nur hinter vorgehaltener Hand geredet, und vor allem gab es keinerlei Respekt ihnen gegenüber.

Welches Gesellschaftsmodell steckte dahinter? Welche Einflüsse der Kirchen spielten eine Rolle?

Die Kirchen, vor allem die Katholische Kirche, hatten einen sehr großen Einfluss, weil sie Homosexualität als eine Frage von „Sünde“ behandelten. Und dadurch war es sehr schwer für viele Menschen, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Es war teilweise so, dass die Menschen das vor ihren Eltern geheim hielten, selbst gegenüber engen Freunden. Es herrschte die Angst vor, dass es ein öffentliches Thema werden würde. Und wenn jemand schwul oder lesbisch war, gab es nicht selten Mobbing z.B. am Arbeitsplatz – nicht selten gab es auch offene Gewalt. Und selbst als es den Strafparagrafen nicht mehr gab, wurden die Betroffenen von der Polizei beobachtet.

Wie kam Bewegung in die Sache?

Mutige Aktivist*Innen haben dann irgendwann angefangen, die Diskriminierung öffentlich anzuprangern. Die sind in die Öffentlichkeit gegangen und haben gesagt: Hier sind wir und wir wollen genauso respektiert werden wie alle anderen Menschen, und wir wollen auch die gleichen Rechte haben. Allmählich war auch die gesellschaftliche Atmosphäre deutlich liberaler geworden, vor allem durch die Bewegungen in den 70er und 80er Jahren, die dann zum Teil in die grüne Bewegung übergingen. Wir hatten bei den Grünen dann auch Aktivist*Innen der Schwulen- und Lesbenbewegung, und die erhielten auch in der Partei immer mehr Unterstützung. Denn intern wusste jeder, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung nicht heterosexuell orientiert ist und dass das nicht irgendetwas ist, was man sich einfach aussucht. Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung gibt es in jeder Bevölkerung, unabhängig davon, welche Religion oder Politik vorherrscht. Diese Tatsache muss man zur Kenntnis nehmen und mit dieser Tatsache gingen die Menschen zunehmend offener um. Wir hatten in der Partei ja auch schwule oder lesbische Freund*Innen und fanden es toll, wie mutig die waren. Deswegen wuchs die Bereitschaft, dieses Thema auch insgesamt politisch zu unterstützen.

Warum hast du dich so für das Thema stark gemacht?

Als ich anfing, mich für die Anliegen der Schwulen und Lesben einzusetzen, dachten viele, ich sei auch lesbisch. Dann wurde bekannt, dass ich mit einem Mann zusammen bin – und dann hieß es, dass wir eine Scheinbeziehung führen würden. Getrieben hat mich schlicht die Überzeugung, dass man diese Menschen endlich anständig behandeln muss. Sie sollten die gleichen Rechte haben vor dem Gesetz, aber auch ein gesellschaftliches Recht auf Würde und Respekt, damit sie sich nicht verstecken müssten. Leider muss ich sagen: Auch in der Grünen Bewegung gab es damals Leute, die mich fragten: Warum musst du dich denn gerade auf dieses schwierige Thema stürzen? Du könntest deinen guten Ruf ruinieren. Es war nicht von Anfang an so populär wie heute. Ich hatte aber auch einen privaten Grund, mich des Themas anzunehmen: In meiner Grundschulklasse gab es einen Jungen, den ich sehr gerne mochte. Er hat sich später als Erwachsener das Leben genommen. Er war schwul. Die gesellschaftliche Verachtung zu der Zeit war für viele eine schreckliche Belastung. Manche haben das nicht ausgehalten.

Welche Rechte wurden diskutiert?

Es gab aus den Kreisen der Schwulen und Lesben Aktionen wie „Aktion Standesamt“. Da ging es darum, dass an die Ehe ganz viele Rechte gebunden sind, die Schwulen und Lesben aber vorenthalten wurden. Da ging es um Themen wie Erbschaftsrecht, Steuerrecht, um Unterhaltsrecht bis hin zu Fragen, ob man etwa als Partner*in im Krankenhaus Auskunft bekommt, wenn der andere dort behandelt wird oder ob man beim Begräbnis mitreden darf, wenn der Partner oder die Partnerin stirbt.  Ich habe Männerpaare kennengelernt, die schon zusammen waren, als dies noch mit Gefängnis bedroht wurde. Für die waren dies existenziell wichtige Fragen.

Es ging auch um die Frage, ob man den gleichen Namen tragen oder ob man gemeinsame Kinder haben kann, etwa im Rahmen einer Adoption. Wenn ein Paar nicht die Möglichkeit hatte, zu heiraten, dann konnte es all diese Rechte nicht für sich reklamieren.

Was war dein wichtigstes Anliegen?

Mir ging es vorrangig nicht darum, dass nun massenhaft geheiratet werden sollte, sondern darum, dass sich die Gesellschaft zu dieser Gruppe der Schwulen und Lesben insgesamt anders verhalten sollte. Die sollten genau die gleichen Rechte haben, sie sollten anerkannt werden, ihnen sollten Respekt und Würde zuerkannt werden. Es ging darum, diese systematische Diskriminierung zu beenden, denen sie ausgesetzt waren, egal wo, am Arbeitsplatz, im Fußballverein, im Wohnumfeld. Sie sollten wie alle anderen Menschen behandelt werden.

Von der Idee, alle gleich zu stellen bis hin zu der tatsächlichen Einführung konkreter Maßnahmen (Hamburger Ehe) - welche Strategien habt ihr dabei verfolgt? Es gab ja damals keine sozialen Medien, es war eine ganz andere Form der Kommunikation.

Es gab natürlich auch damals in den Medien Berichterstattung zu diesen Fragen. Was Ende der 80er Jahre sehr für Aufsehen sorgte, war eine Szene in einer sehr beliebten Fernsehserie, in der sich zwei Männer küssten. Das war ein großer Aufreger, auch wenn das Thema in der Öffentlichkeit bereits diskutiert wurde. Ein großes Problem war aber, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser frühen Zeit noch geurteilt hatte, dass Schwule und Lesben zwar mehr Rechte bekommen sollten, dass es aber ein Abstandsgebot zur Ehe geben müsste. Eine komplette Gleichstellung sollte es nicht geben.

Daraus entstand dann als erster Schritt die Idee, neben der Ehe so etwas wie eine Lebenspartnerschaft zu schaffen. Und an diese Lebenspartnerschaft könnte man dann ja konkrete Rechte binden. Juristen haben dazu Gutachten erstellt und erklärt, dass das möglich sei, vorausgesetzt, es gäbe den politischen Willen. In Hamburg (Bundesland) waren wir als Grüne in der Regierung mit den Sozialdemokraten und unser Ziel war es, die Diskussion darüber voran zu treiben. Dann hatten wir die Idee, eine sogenannte „Hamburger Ehe“ zuzulassen.

Was war das genau? Und wurde das institutionalisiert?

Man konnte fortan in einem Standesamt die Lebenspartnerschaft in ein Partnerschaftsbuch eintragen lassen und damit wurde diese Beziehung offiziell. Daran waren allerdings keine Rechte gebunden. Es war aber ein sehr öffentlichkeitswirksamer, symbolischer zentraler Schritt – und für dieses Modell gab es dann auch politische Mehrheiten. Dies hat sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, auch bundesweit. Wir als Grüne Partei haben das als politisches Vorhaben dann in Hamburg auf Landesebene in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Als Senatorin (Ministerin in Hamburg) hatte ich die Mitarbeiterinnen der Verwaltung hinter mir, und dann haben wir dieses Gesetz mithilfe von Juristen ausarbeiten lassen. Zusätzlich hat es geholfen, dass wir die Unterstützung des Obersten Standesbeamten in Hamburg hatten.

Wie kam es dazu?

Um bestimmte politische Weichenstellungen auf den Weg zu bringen, ist es zentral, dass man sich Bündnispartner sucht. Wenn die Hamburger Standesbeamten gesagt hätten, das ist Missbrauch unserer Institution, das ist Quatsch und Klamauk, das wollen wir nicht mitmachen – dann wäre es schwierig geworden, dies Ehemodell öffentlich zu vermitteln. Ich hatte dann auch die Möglichkeit, durch diesen obersten Hamburger Standesbeamten vor einer Gruppe seiner Kollegen aus der ganzen Bundesrepublik zu sprechen und zu begründen, warum wir das machen. Als wir das Gesetz 1999 zur Gleichstellung in Hamburg dann auf den Weg brachten, waren wir auch schon in der Bundesregierung mit den Sozialdemokraten. Und dann ging es fortan darum, das Hamburger Modell auf Bundesebene zu verankern; dies sollte dann aber mit Rechten verbunden werden. Die Sozialdemokraten waren aber unsicher, wie das in der Bevölkerung ankommen würde.

Welches waren denn eure größten Schwierigkeiten?

Die Konservativen behaupteten, die Hamburger Ehe wäre ein Angriff auf die Familie. Es ging darum, die über Jahrzehnte gewachsenen Vorbehalte und Tabus zu brechen. Ich war viel auf den Straßen unterwegs und habe sehr intensiv mit den Bürger*Innen geredet. Viele konnten es schwer beschreiben, warum sie dagegen waren. Aber viele hatten das Gefühl, es ginge dabei um etwas Ekelhaftes…

In der Zeit, als ich jung war, gab es eine ganz verklemmte Einstellung zu Sexualität, darüber konnte nicht normal geredet werden. Vor allem Männer konnten zwar blöde Witze erzählen, aber ein normales offenes Gespräch über Sexualität auf einer sachlichen Ebene - das konnten sie nicht. Und wenn viele schon über Sexualität zwischen Männern und Frauen nicht normal denken und reden konnten, dann überforderte sie die Vorstellung, dass auch Paare gleichen Geschlechts Sex miteinander hatten, vollkommen.

Wie seid ihr mit diesen Vorbehalten umgegangen? Welche Strategien habt ihr entwickelt?

Es war sehr wichtig, dass die Leute anfangen konnten, selber Erfahrungen mit Schwulen und Lesben zu machen, damit sie erleben konnten, dass das ganz normale Menschen sind. Dass das auch tüchtige Leute sind, die ihren Mann oder ihre Frau in der Wirtschaft und am Arbeitsplatz stehen. Das sind auch Menschen, die Verantwortung für ihren Partner bzw. ihre Partnerin übernehmen. Daher war es sehr wichtig, diese Paare sichtbar zu machen. Das Zweite war, dass wir es geschafft haben, eine positive politische Ikonografie zu schaffen. Da spielte die Hamburger Ehe eine große Rolle. Die Paare kamen damals mit ihren Freunden, ihren Geschwistern und Eltern zum Standesamt, sie waren sehr schön angezogen - wie andere Hochzeitspaare auch. Und der Standesbeamte hat dem Ganzen einen ganz würdigen Rahmen gegeben - es war keine Show- oder Klamauk-Veranstaltung, es war eine würdige Zeremonie. Das waren natürlich tolle Bilder. Und diese Bilder kamen dann auch in den Medien vor, was die Einstellung vieler Menschen dann explizit verschoben hat. Es ging plötzlich um das Recht auf Liebe – und das ist bei den meisten positiv besetzt, es ging um Themen wie Verantwortungsübernahme, um Fürsorge etc.

Wie konntet ihr diese neue Wahrnehmung nutzen?

Insgesamt führten diese positiven Bilder und die neuen Vorstellungen dann auch zu einer Verschiebung des Diskurses – dies hat dann letztendlich eine große Rolle für das Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 auf Bundesebene gespielt. Das war auch noch nicht mit allen Rechten verknüpft, das hatten die Konservativen im Bundesrat verhindert. Aber diese Verschiebung, dass Menschen Verantwortung für den Partner/die Partnerin übernehmen wollen, spielte dann irgendwann auch eine große Rolle in der Rechtsprechung. Es gab dann etliche unterstützende Gerichtsurteile, z.B. in Fragen der finanziellen Absicherung. Irgendwann hat dann das Bundesverfassungsgericht seine ursprüngliche Position geändert und erklärt, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht zulässig ist und jede Schlechterstellung begründet werden muss. Damit geriet auch das konservative Spektrum, das eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare ablehnte, in die Defensive. Gleichzeitig kamen sie auch gesellschaftlich unter Druck, da damals dann auch die Evangelische Kirche sagte, dass diese Form der Verantwortungsübernahme der gleichgeschlechtlichen Paare ja auch im christlichen Sinne richtig sei. Zudem unterstützten auch andere eher konservative Kreise wie z.B. die Altkatholiken die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Auf diese Weise ergab sich eine Art Schneeballeffekt: Immer mehr Kräfte in der Gesellschaft sagten, dass die völlige Gleichstellung richtig sei. Und auch auf internationaler Ebene tat sich viel, selbst katholische Länder wie Spanien und Irland öffneten die Ehe.

Dadurch kam der Eindruck auf, dass Deutschland auch im europäischen Vergleich hinterwäldlerisch agierte. 2017 kam es dann unter einer CDU-geführten Bundesregierung zu einer offenen Abstimmung im Bundestag, als Kanzlerin Angela Merkel erklärte, dass bei diesem Thema jeder Abgeordnete im Bundestag nach seinem Gewissen abstimmen solle  – und nicht nach Parteizugehörigkeit und Fraktionszwang. Sie hat dann selbst dagegen gestimmt, aber die Ehe für alle kam durch.

Ein langer Weg hin zu so einem historischen Schritt…

In der Tat, heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, warum der Weg so lang war - von den ersten Aktivisten in Hamburg auf Landesebene bis hin zum Gesetz auf Bundesebene 2017. Heute ist die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Partner in Europa Mehrheitsposition. Heute hat die Mehrheit der EU-Länder entsprechende Gesetze zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare - oder es gibt zumindest Lebenspartnergesetze, die keine vollständige Gleichstellung formulieren, aber doch die Partnerschaft institutionalisieren. Schon sehr früh gab es in Europa ein Land, das schon 1989 mit einem Lebenspartnerschaftsgesetz begonnen hat – das war Dänemark, meine zweite Heimat. Das war natürlich auch ein Impuls für mich zu sagen, wenn die das machen, warum machen wir das nicht?

Welche Resonanzen gab es darüber hinaus? Gab es auch Drohungen?

Natürlich, aber zum Glück gab es damals noch nicht die sozialen Medien, wir waren also nicht digitalen Shitstorms ausgesetzt. Wir wurden angegriffen und bekamen jede Menge Beschimpfungen und Schmähbriefe und das ging hin bis zu Morddrohungen. Damals kamen die Morddrohungen allerdings noch per Post. Und bei einigen Veranstaltungen kam denn auch mal jemand vom Landeskriminalamt mit und stand im Hintergrund und passte auf, dass mir nichts passierte.

Heute sind Anfeindungen im Internet massiv und werden in Sekundenschnelle in die Breite getragen. Wäre euer Engagement für die Umsetzung der allgemeinen Menschenrechte heute noch möglich, in so einer sensiblen Frage gegen den digital orchestrierten Mainstream anzuarbeiten?

Das wäre mit Sicherheit schwieriger geworden. Die Sozialdemokraten, mit denen wir in Hamburg regierten, hätten sich wohl schneller einschüchtern lassen. Diejenigen, die ihre Hasskampagnen lostreten, die sind ja meist viel massiver und lauter und dadurch entsteht eine Reichweitenillusion. Man denkt, dass diese Gruppen die Bevölkerung repräsentieren, das ist aber absurd. Wenn man politisch demokratisch gewählt ist, dann kann man auch sagen, wir sind demokratisch legitimiert, bestimmte politische Entscheidungen zu treffen. Sich dann von irgendwelchen Gruppen einschüchtern zu lassen, weil sie behaupten, sie würden die Bevölkerung vertreten, ist somit abwegig. Wir erleben das ja auch mit Corona: es gab immer eine Mehrheit, die gesagt hat, wir finden die Maßnahmen richtig oder wünschen uns noch strengere Schutzmaßnahmen – und trotzdem hat es immer auch Gegen-Gruppen von Impfgegnern und Corona-Leugnern gegeben, die sich aufgeführt haben, als ob sie die Mehrheit vertreten. Darin sehe ich eine Gefahr, dass sich die Politik dann angesichts solcher Kampagnen einschüchtern und täuschen lässt.

Dein Ratschlag wäre also: Dranbleiben, durchsetzen, strategische Partner suchen und finden?

Ganz wichtig ist, dass man sehr gut die Unterstützung organisiert. Das heißt auch, dass man das nicht nur aus der betroffenen Gruppe heraus macht, sondern dass diese Gruppe Solidarität bei der Mehrheit der Bevölkerung sucht und findet. Deswegen ist es extrem wichtig, dass man seine  Antidiskriminierungs- und Gerechtigkeitspolitik von einem universalistischen Menschenrechtsgesichtspunkt aus angeht und erklärt. Es sollen ja nicht diverse kleine Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, Solidarität soll nicht aufgesplittert werden. Uns eint doch, dass wir alle Menschen sind und dass Menschenrechte universal sein sollen. Dafür bin ich immer eingetreten.

Welche Momente haben dich besonders berührt hat?

Das waren z.B. die Begegnungen mit den alten Männerpaaren und auch mit den Eltern schwuler und lesbischer Paare. Wir feiern in Hamburg ja traditionell den Christoper Street Day. Früher war das weniger eine große Party und mehr eine politische Demonstration für mehr Menschenrechte. Und da kamen dann auch viele Eltern, um teilzunehmen und etliche haben sich bei mir bedankt, dass wir uns für die Rechte ihrer Kinder eingesetzt haben.

Du hast 2019 in Bosnien und Herzegowinas Hauptstadt Sarajevo an der ersten Pride des Landes teilgenommen, die unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen stattgefunden hat. Was waren deine Eindrücke?

Ich fand das toll, dass das zustande gekommen ist, das hat mich sehr gefreut. Das ist ja nicht selbstverständlich, dass sich in diesem Land so viele Menschen für ein so sensibles Thema auf die Straße trauen. In meinem langen politischen Leben habe ich allerdings schon oft Demonstrationen mit massiver Polizeipräsenz erlebt und auch mit Auseinandersetzungen – das war vor diesem Hintergrund für mich nichts Neues. Was mich sehr gefreut hat, war, dass es eine Reihe von älteren Menschen gegeben hat, die nicht mitmarschiert sind, die aber an den Fenstern standen und uns unterstützt haben und uns freundlich zugewinkt haben - das hätte ich so nicht erwartet. Das war ein sehr schönes Erlebnis!

In vielen Ländern des West-Balkan heißt es oft: Homosexualität sei ein Konzept des Westens, das die traditionelle Ehe zerstört, was hältst du dem entgegen?

Kein Mensch, der glücklich verheiratet ist, wird auf einmal homosexuell oder hat weniger Rechte oder Anerkennung nur weil Schwule und Lesben die gleichen Rechte bekommen. Ich weiß daher gar nicht, was denn da eigentlich zerstört werden könnte. Das waren auch die Argumente, die damals von unseren politischen Gegnern kamen, als wir die Hamburger Ehe auf den Weg gebracht haben. Was mich am meisten empört hat, war, dass das Argument, dass die Gleichstellung von Lesben und Schwulen ein Angriff auf die traditionelle Ehe sei, aus einer Partei kam, in der die Hamburger Führungsperson selber schwul war. Später wurde dieser Politiker Bürgermeister und zeigte sich dann irgendwann auch öffentlich mit seinen gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Das war von den konservativen Gegnern teilweise schon sehr verlogen. Denn natürlich gibt es in allen Parteien Lesben und Schwule und so zu tun, als ob es dies in diesen Parteien nicht gibt, das ist doch peinlich. Absurd war auch das Argument, dass jemandem etwas weggenommen wird. Ich bin selber auch verheiratet und mir wird nichts weggenommen, wenn andere die gleichen Rechte besitzen wie ich.

Oftmals haben gerade Frauen in den Ländern des Westbalkan starke Vorbehalte gegenüber dem Feminismus. Was sind deine Argumente, warum sollten sich Mädchen und Frauen für Frauenrechte einsetzen?

Weil es ihnen dann besser geht. Dass Frauen große Probleme damit haben, zu akzeptieren, dass die nächste Generation ein anderes Leben führen will, das war schon immer so, weil sie das Gefühl haben, dass ihr Leben infrage gestellt wird und ein Stück weit ihre eigene Lebensleistung entwertet wird. Und dagegen wollen sie sich zur Wehr setzen, indem sie der nächsten Generation absprechen, freier zu leben.

Wenn man selbst all diese Freiheiten nicht hatte, dann empfindet man einen anderen Lebensansatz als Angriff. So ist es ja aber nicht, niemand greift seine Mutter an, nur weil man unabhängiger leben möchte. Natürlich ist eine solche Abwehrhaltung in der Tat enttäuschend, weil man sich gerade von anderen Frauen Unterstützung erhofft, die mitunter aber fehlt. Es ist aber richtig und wichtig, dass sich Frauen und Mädchen ihre Chancen im Leben erkämpfen. Dabei geht es um Geld, um Entscheidungsfreiheiten, um Unabhängigkeit, auch um Angst vor Gewalt und Machtmissbrauch. Und nicht zuletzt um Bildung.

Auch in meiner Jugend war Bildung für uns Mädchen nicht selbstverständlich. Damals hieß es in vielen Familien: Warum soll sie denn so lange zur Schule gehen? Zum Glück war das bei mir nicht so. Mein Vater hat mich bei meinen Bildungschancen immer sehr unterstützt.

Warum sollten sich Männer für feministische Ziele einsetzen?

Männer haben eine wichtige Position in der Gesellschaft und entscheiden auch darüber mit, wie die Situation von Frauen ist. Männer sind die Hälfte der Menschheit und von ihnen hängt eben auch viel ab. Ob sie die Frauen unterstützen oder Gegner der Frauen sind - das ist eine ganz zentrale Frage.

Du warst ja lange Zeit auch an der Spitze der Grünen Partei. Nun wird es zum zweiten Mal eine Bundesregierung mit grüner Beteiligung geben.

Was war für dich im Nachhinein der größte politische Erfolg dieser Partei, die ja am Anfang nur eine grüne Bewegung war?

Der größte Erfolg ist der, dass die Grünen in vielen Bereichen wirkliche Game Changer geworden sind, dass sie eine Gestaltungsmacht geworden sind, die in vielen Bereichen Politik und Gesellschaft zentral verändert haben. Besonders wichtig ist dies in der Klimafrage, das ist momentan die größte Herausforderung für die gesamte Menschheit. Und wir haben in Europa eine besondere Verantwortung, zu zeigen, dass die Welt da herauskommen kann. Zu beweisen, dass wir Wohlstand und Klimaneutralität zusammen bringen können, das ist die Herausforderung, vor der gerade die europäischen Länder stehen – und auch Deutschland als eines der reichsten Industrienationen.  Daher ist es besonders wichtig, dass die Grünen nun in der Koalition aktiv mitgestalten können.


Krista Sager ist seit fast 40 Jahren Mitglied der Partei „Die Grünen“ in Deutschland, sie war lange im Parlament (Bundestag) sowie in der Landesregierung in Hamburg, wo die SPD und die Grünen zusammen regierten. Zu der Zeit war Krista Sager zweite Bürgermeisterin für Hamburg und Senatorin für Wissenschaft und Gleichstellungspolitik. Im Bundestag war sie zudem Fraktionsvorsitzende der Grünen. Später widmete sie sich vor allem der Wissenschafts- und Hochschulpolitik.

 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de